100 Jahre Bildungsrevolution

 „Wir brauchen eine Bildungsrevolution!“
(David Precht)

„Bildung ist die Supermacht des 21. Jahrhunderts!“
(FDP, 2017 Wahlkampfschlager)

Bildung und Erziehung sind heiß umkämpfte – weil hohe! – Güter!
Kein Wunder, dass Bildungspolitik ein probates Mittel im Wahlkampftheater ist.
Die Versprechungen sind vollmundig, die Absichtserklärungen klingen ernsthaft.

Wer aber bestimmt über die Schule respektive die Bildungsinhalte?
Die Politiker? Die Unternehmer? Die Pädagogen?
Wer hat das Recht auf die Prägung der Kinder und Jugendlichen?
Der Staat? Die Eltern? Wem gehören denn die Kinder?

Artikel 6 GG legitimiert die Eltern als Verantwortungsträger für ihre Kinder,.
Artikel 7 GG weist die Hoheit und damit das Wächteramt über die Schule aber dem Staat zu: Erziehung und Bildung stehen damit in einem Spannungsverhältnis.

Schule als Austragungsort divergierender Interessen

Schule war und ist bis heute ein Austragungsort divergierender gesellschaftlicher Interessen, weil hier die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Gesellschaft gestellt werden.

Welche Vorstellungen über den brauchbaren Bürger von morgen sind richtungsweisend?
Welche Kompetenzen soll der gute Bürger der Zukunft vorweisen können?
Welche Werte, Überzeugungen, Ziele soll dieser gute Mensch dann internalisiert haben, um eine  friedliche, harmonische Gesellschaft zu formieren?

Es steht viel auf dem Spiel, eigentlich alles:
Es geht um die Frage nach der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Es geht um den Traum einer ‚neuen Gesellschaft mit neuen Menschen.‘

Im Säkularisierungsprozess der Moderne gewann der Traum Gestalt in Form einer Abkehr von einer christlich geprägten Durchdringung der Gesellschaft hin zu materialistisch-diesseitigen Erfüllungsutopien mit unterschiedlichen weltanschaulichen Ausprägungen. Einigkeit bis heute herrscht aber im Bewusstsein der hohen Signifikanz von Bildung und Erziehung, um dieses hohe Ziel der Schaffung einer ‚ neuen Gesellschaft mit neuen Menschen´  erreichen zu können.

Wer die Schule hat, der hat die Zukunft

Ferdinand Stiehl (1854)

„Wer die Schule hat, der hat die Zukunft!“, wusste schon der brave preußische Schulreformer Ferdinand Stiehl. Ein Blick in die Schulgeschichte legt ein beredtes Zeugnis über den Kampf um die Seelen der Kinder – die Gestalter von morgen – ab. Bereits im Kaiserreich hatte der streitbare Vorkämpfer der Sozialdemokratie, Wilhelm Liebknecht erklärt, die „Schule ist das mächtigste Mittel der Befreiung oder Knechtung…. der Staat, wie er ist, d. h. der Klassenstaat, macht die Schule zu einem Mittel der Klassenherrschaft.“

Weimarer Republik

Mit dem Systemwandel am Ende des I. Weltkriegs sahen die Bildungsrevolutionäre ihre Stunde gekommen: Bereits im November 1918 verkündete der preußische Kultusminister Konrad Haenisch (SPD) in einem eiligen Erlass, es gelte „jede Glaubens- und Gewissensverge-waltigung aus der Schule zu entfernen … die gröbsten Übel aus(zu)rotten, jeden Zwang zu religiösen Übungen und Äußerungen zu beseitigen.“(1) Es ging um die „Entchristlichung“ der Schule, die Abschaffung bzw. Überführung der  zahlreichen konfessionellen Schulen in Staatsschulen. Schule sollte eine Angelegenheit des Staates, der Einfluss von Elternhaus und Kirche möglichst weitgehend eliminiert werden. Der spätere EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius, ein scharfsinniger Analyst und profilierter Theologe, geißelte in einem Pamphlet den Erlass als „Attentat auf die Grundlagen unserer christlich-deutschen Kultur. Das bedeutet, dass der Geist des Materialismus einziehen soll in die Schule, von der Schule in die Herzen der Kinder, von den Herzen der Kinder hinaus ins ganze deutsche Volk.“(2) Ziel der Bildungsrevolutionäre war die Vereinheitlichung des Schulsystems und damit auch den Bildungsinhalten unter Ausschaltung christlicher Überzeugungen und Wertvorstellungen. Im Kern ging es um die Entchristlichung der Gesellschaft, um die Schaffung einer neuen Gesellschaft mit neuen Menschen: „Unterricht – Religion – Kunst: ein Komplex! Ein großer Gedanke muss alle Kräfte leiten, es wird alles von einer Weltanschauung, einer wahren Religion durchtränkt sein, ein Band umschlingt alle.“ Gemeint war dabei nicht eine Renaissance des Christentums, sondern vielmehr „eine Religion ohne Kirche und Bekenntnis, ohne Gott und Jenseits“ (3) Entscheidende Gelenkstellen zur Förderung dieser Entwicklung waren Erziehung und Bildung!

Nationalsozialismus

Die Vereinnahmung des Bildungs-und Schulwesens zur Verfertigung des neuen ‚totalen‘ Menschen setzte sich im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten fort. Das Ausmaß der ideologischen Indoktrination lässt sich am Beispiel des Volksschuldiktats `JESUS UND HITLER´ erahnen:
„Wie Jesus die Menschen von Sünde und Hölle befreite, so rettete Adolf Hitler das deutsche Volk vor dem Verderben. Jesus und Hitler wurden verfolgt, aber während Jesus gekreuzigt wurde, wurde Hitler zum Kanzler erhoben. Während die Jünger Jesu ihren Meister ver­leugneten und ihn im Stich ließen, fielen die 16 Kameraden für ihren Führer. Die Apostel vollendeten das Werk ihres Herrn. Wir hoffen, dass Hitler sein Werk selbst zu Ende führen darf. Jesus baute für den Himmel, Hitler für die deutsche Erde.“ 

Gründung der BRD

Auf der Suche nach einer Neuorientierung am Ende des II. Weltkriegs forderte die in ihren Grundfesten erschütterte und verstörte Gesellschaft absolute und totale Distanzierung von jeglicher Indoktrinierung:  Wie konnte nach dem Grauen des Krieges und der Barbarisierung eine Humanisierung der Menschen und die Schaffung einer friedlichen, ideologieresistenten Gesellschaft erreicht werden?
Wiederum nahmen Bildung und Erziehung eine entscheidende Schlüsselfunktion ein: Schule als Pflanzstätte für Freiheit, Demokratie, Toleranz und Pluralismus! Und wiederum ging es im Kern um die Frage: Wem gehören die Kinder? Wer hat das Sagen über Bildung und Erziehung? Wer bestimmt die Inhalte, wer prägt die Akteure von morgen? Und wieder setzten die alten Grabenkämpfe ein: Abgeordnete der CDU/CSU forderten die Anerkennung des Elternrechts und einen religiös-weltanschaulichen (=christlichen!) Gestaltungsfreiraum der Schule, der FDP-Vorsitzende und spätere erste Bundespräsident Theodor Heuss dagegen erinnerte an den „schrecklichen Weimarer Schulkompromiss“ und konterte lakonisch, Was heißt denn das – Elternrecht als Grundrecht? – Kinder zu kriegen! Was denn sonst?“ (4) Der SPD-Abgeordnete W. Menzel hob das Recht des Staates auf Erziehung hervor und erklärte: „Im Übrigen sind wir der Auffassung, dass das Kind nicht nur für die Eltern erzogen wird. Der Einbau des Menschen in die Probleme des Staates, sein Heranführen an diese Aufgaben kann nicht früh genug beginnen.“(5)  Unverhohlen wurde hier ein Herzstück linker Ideologie offengelegt: die Vereinnahmung des Individuums durch den Staat, die  Vergesellschaftung des Menschen zugunsten einer kollektivistischen Gesellschaft. Dieser Staat sollte nach dem Willen der Verfassungsväter ein weltanschaulich neutraler, freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat sein, die Gesellschaft eine freie, offene, pluralistische, säkularisierte Gesellschaft, eben eine neue Gesellschaft mit neuen Menschen!

Die 68er

Die „formierte Gesellschaft“ der 60er-Jahre, die als „erstarrt, verkrustet,  konsumverhaftet“ wahrgenommen wurde, erzeugte eine wachsende Unzufriedenheit bei der jungen Generation. Die Kritik an dieser Gesellschaft, die sich dem ‚Diktat der Mächtigen, des Establishments‘ willig füge und die hehren Ziele der Freiheit und Selbstbestimmung einer schäbigen Kleinbürgerlichkeit preisgab, entlud sich schließlich in einer massiv ausgetragenen Revolte. Es war die Stunde der 68er, die sich lautstark Gehör auf den Straßen und in den Universitätssälen verschafften. Nährboden der Entwicklung war die ´Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule. Die Transformation der Gesellschaft sei nur durch einen Prozess der Emanzipation, Entmachtung der Familie und  „Erziehung zur Mündigkeit“(Th. Adorno) erreichbar, eine tiefgreifende Bildungsrevolution war vonnöten. Die Umsetzung dieser Reformen erforderte einen Umbau der gesamten Schullandschaft, eine sowohl institutionelle als auch inhaltliche Neugestaltung. Eckpunkte der Reform waren die Schlagworte
Egalitarismus, Emanzipation, Enttabuisierung.

Egalitarismus meinte die Herstellung von Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit, d.h. Unabhängigkeit von der Bildungsherkunft (=Familie). Die frühe soziale  Auslese der Kinder im Anschluss an die Grundschulzeit bestimme über die weitere Bildungsbiografie, Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern mit einem ‚restringierten Code‘ (Basil Bernstein) würden dabei systemisch vernachlässigt, wie eine Studie von Dahrendorf belegen sollte. Die Gesamt/-Ganztagsschule dagegen fördere Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit.

Eine konkrete Maßnahme war beispielsweise die Nivellierung der Sprache durch Vereinfachung der Schriftsprache mittels konsequenter Verwendung der Kleinschreibung, auch die Verwendung von Fäkalsprache schien ein probates Mittel.

Institutionell verankert wurde der Bildungsreformprozess durch die Aufhebung des dreigliedrigen Schulsystems und Einführung der Gesamtschule/Ganztagsschule, um die Prägung des Elternhauses zugunsten der Einflussnahme des Staates zu vermindern, d.h. die Kombination Gesamtschule/Ganztagsschule ist fester Bestandteil der Gesamtkonzeption.  

 Emanzipation bedeutete dabei  „die Aufhebung nichtlegitimierter und irrationaler Herrschaft und Autorität im Erziehungsprozess“(6), d.h. die grundsätzliche Infragestellung jeder Art von Autorität. Eine umfassende Revision der Curricula, die Einführung neuer Rahmenrichtlinien und Erstellung entsprechender Schulbücher sollte die Neuausrichtung untermauern, nötig dazu waren Einführung neuer Fächer bzw. Unterrichtsinhalte, so wurde z.B. Sexualkunde zum Pflichtunterrichtsstoff. 

Die Förderung des Emanzipationsprozesses kam beispielsweise in Schulbuchtexten zur Anwendung, z.B. in einem Lesebuch für Klasse 6:

„Kinder, ihr müsst euch mehr zutrauen. Ihr lasst euch von Erwachsenen belügen. Und schlagen: Denkt mal: 5 Kinder genügen, um eine Großmama zu verhauen.“ 

Schule sollte eine Plattform zur Einübung der Emanzipation von Autorität bieten, die Befreiung von Regelwerken und Ordnungsvorstellungen war programmatisch.  In der pädagogischen Zeitschrift „betrifft erziehung“ wurde die emanzipierte Schule beschrieben:

„In der revolutionären Schule können die Schüler wohnen, wenn es ihnen Spaß macht. Ob einer mit seiner Freundin in der Schule fummelt oder nicht, ob er frisst während des Unterrichts, ob er angezogen ist oder nicht, ob er liegt während der Schule oder pennt oder wegbleibt oder masturbiert oder zuhört:
dies alles ist allein seine Angelegenheit.“ (7)

Enttabuisierung wurde als unverzichtbarer Bestandteil der Emanzipation, der Befreiung aus jeglicher Art von Unterdrückung und Machtausübung gefordert. Gespeist von den Ideen des frühen Sexualforschers Wilhelm Reich (1987-1957) galt die  Freigabe von Sexualität unter Aufhebung des moralischen Zwangskorsetts, die „Entsublimierung“ zur Vermeidung von Triebstau und der damit verbundenen Aggressionssteigerung als unverzichtbares Mittel im Transitionsprozess zur Schaffung der neuen Gesellschaft mit neuen Menschen.

Es war ein Gesamtkonzept: Ein grundlegender Systemwechsel war nur mit der Abschaffung von Autorität und Herrschaft vorstellbar. Die kongeniale Verbindung von Sexualität und Macht musste im Zuge der Emanzipation gebrochen werden. Eine Maßnahme sollte dabei die „Ermöglichung libidinöser Gruppenerfahrung im Erlernen der Liebe“ sein, Schule sollte Räume zur Verfügung stellen, um Schülern die Möglichkeit zu „erotischer Kommunikation“(8) anzubieten.

Die Revolution der Gesellschaft wird in den Klassenzimmern ihren Ausgang nehmen:

„Die Schlacht um die Zukunft
der Nation und der Menschheit
wird in den Schulstuben geschlagen.“ (9)

Bildungsexperte Hartmut Hentig

Schule war und ist bis heute ein Austragungsort divergierender gesellschaftlicher Interessen, weil hier die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Gesellschaft gestellt werden. Die großen Bildungsreformen der letzten Jahre haben einmal mehr gezeigt, wie heftig der Kampfplatz Schule umstritten ist, einmal mehr ist die Sexualpädagogik ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Genderbewusste Pädagogik klagt die Anerkennung der Diversität von Geschlecht ein:

Kinder jenseits von Geschlechterklischees zu fördern, unabhängig von den jeweils herrschenden Vorstellungen vom ‚richtigen Mädchen‘ und ‚richtigen Jungen‘.“(10)

100 Jahre Bildungsrevolution waren der Nährboden unserer Gesellschaft, eine völlig orientierungslose Gesellschaft sucht heute nach einem Wertekanon, einer Leitkultur, einem funktionsfähigen, belastbaren Gesamtkonzept und sieht sich einer zunehmenden Fragmentierung, Radikalisierung, mit einer Identitätskrise konfrontiert. Quo vadis Europa?

1 K. Haenisch, Erlass über den Religionsunterricht vom 29. November 1918, EZA Berlin 7/4469 in: S. Müller-Rolli,  Dokumente und Darstellung, Göttingen, 1999, S. 65

2 O. Dibelius: Für die christliche Schule! in: S. Müller-Rolli,  Schulpolitik in Deutschland 1918–1958, Göttingen 1999, S. 68

3  B. Taut, An die sozalistische Regierung in: Sozialistische Monatshefte 1918

4 Th. Heuss, Protokolle des Parlamentarischen Rats 1949, Bd.5, S. 218

5 A. Menzel (SPD), Protokolle des Parlamentarischen Rats 1949, Bd.5

6 Autorenkollektiv (Hg J. Beck), Thesen zu emanzipatorischer Erziehung, S.151

7 J. Allweiler, Es lebe die revolutionäre Schule in: betrifft erziehung, 10/1968

8 H.J. Gamm, Kritische Schule, S.78

9 Hentig, Hartumut: Spielraum und Ernstfall, S. 204

10 „Männlich und weiblich sind nur die Endpunkte auf einer Geschlechterskala, zwischen denen es unendlich viele Varianten gibt.“ In: Handreichung für pädagogische Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung (hg. Bildungsinitiative QUEERformat), S. 23

Detaillierte Darstellung in: S. Roßkopf, Der Aufstand der Konservativen. Die Bekenntnisschulbewegung im Kontext der Bildungsreformen der 70er-Jahre. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte im Umbruch der 68er
LIT Verlag 82017), ISBN-13: 978-3643136411      

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